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Titel
Jüdisches Biel. Ein Porträtbuch


Autor(en)
Flück, Melissa
Erschienen
Zürich, Schweiz 2022: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
124 S.
von
Tobias Kaestli

An der Rüschlistrasse 3 in Biel steht die im maurischen Stil erbaute und 1883 einge weihte Synagoge. Sie ist das Wahrzeichen einer einst relativ grossen jüdischen Gemeinde. Die Zeiten haben sich geändert, die Gemeinde ist geschrumpft und hat keinen eigenen Rabbiner mehr. Woran liegt es? Und wer macht heute noch aktiv mit?

Die Jüdische Gemeinde Biel entstand Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihre Geschichte bis 1945 ist von der Historikerin Annette Brunschwig aufgearbeitet und 2011 unter dem Titel Heimat Biel publiziert worden. Jetzt ist ein schmales Buch erschienen, das die Brücke zur Gegenwart schlägt. Es enthält neun Porträts von heute lebenden Gemeindemitgliedern. Melissa Flück hat in langen Gesprächen deren Familiengeschichten und Lebensweisen ergründet und in verdichteter Form aufgeschrieben.

Alle neun Lebensgeschichten sind interessant zu lesen, stehen aber unvermittelt nebeneinander. Die Autorin, die während ihres Studiums an der Universität in Basel neben Kulturanthropologie auch das Fach «Jüdische Studien» belegte, hat es vermieden, die Gespräche unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt zu interpretieren; sie überlässt es den Leserinnen und Lesern, ihre Schlüsse zu ziehen. Eine gewisse Hilfe bietet das Nachwort, das Melissa Flücks ehemalige Dozentin, Stefanie Mahrer, unter dem Titel «Die jüdische Gemeinde Biel im Kontext» geschrieben hat.

Die Serie der Porträts beginnt mit Joke Mollet. Sie wurde 1936 in Amsterdam geboren, kam nach dem Zweiten Weltkrieg in die Schweiz und war vier Jahre lang Präsidentin der Jüdischen Gemeinde Biel. Von Haus aus sei sie keiner Religion zugehörig gewesen, sagt sie. Ihre sozialistischen Eltern hätten sie atheistisch aufgezogen. Der Vater habe christliche Vorfahren gehabt, die Mutter sei jüdischer Herkunft gewesen. Die Besetzung der Niederlande durch die Nazis erlebte sie als entbehrungsreiche und gefährliche Zeit. Ihre jüdische Grossmutter hätte deportiert werden sollen, was ihre Mutter mit einem dramatischen Auftritt bei der Gestapo verhinderte. Joke heiratete 1954 in Biel einen reformierten Schweizer. Obwohl er selbst kein Kirchgänger war, liess sie sich in der Stadtkirche taufen. Zwanzig Jahre später fühlte sie sich stärker zum Judentum hingezogen, nahm Unterricht beim Rabbiner und lernte Hebräisch. Sie integrierte sich in die jüdische Gemeinde, blieb aber offen gegenüber den anderen Religionsgemeinschaften.

Jona Fritz, geboren 1949, ist Israelin. In ihrer Familie wurde Hebräisch gesprochen, und zwar auch noch, als sie sich in Biel niederliess. Heute gebe es nicht mehr viele Juden in Biel, sagt sie. Die Jungen seien weggezogen, nach Israel oder anderswo hin. «Es ist nicht einfach, hier als Gemeinde zu überleben. Aber wir tun, was wir können. An die Anlässe kommen mehr Frauen als Männer.» Viele seien Witwen; es sei ihnen zunehmend ein Bedürfnis, in die Synagoge zu gehen. Bei ihr sei es umgekehrt; sie sei jetzt nicht mehr so aktiv wie früher. Wichtiger sei ihr die Familie. «Wenn meine Enkel kommen, tanzen wir. Einfach leben und leben lassen, das ist gut. Mir ist es egal, ob jemand Muslimin, Jude oder Christin ist, wenn er ein guter Mensch ist, schliesse ich ihn ins Herz.»

Der älteste der Befragten ist Simon Laur. Sein Vater war Rabbiner und stammte aus Südgalizien. 1916 kam er nach Biel und wurde 1919 eingebürgert. 1925 wurde er nach Mannheim berufen, kam aber nach dem Pogrom vom 9. / 10. November 1938 («Kristallnacht») in die Schweiz zurück und wurde wieder Rabbiner in Biel. Sohn Simon, geboren 1929 in Mannheim, besuchte in Biel das Gymnasium und studierte in Bern klassische und semitische Philologie. Er wurde Lehrer in Glarus, später Professor für Judaistik an der Universität Luzern. Er behielt den Kontakt zur Jüdischen Gemeinde Biel und kennt alle alten Gemeindemitglieder. So weiss er von David Epelbaum zu erzählen, der aus Polen nach Biel kam und hier Kinobesitzer wurde. Sohn Vital Epelbaum, geboren 1934, war Jurist, erwarb mehrere Kinos und war Vorstandsmitglied und zeitweiliger Präsident der Jüdischen Gemeinde Biel. AlsMitglied des Zentralkomitees des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds erwarb er sich grosse Verdienste. Seine Tochter Edna Epelbaum führt heute das Kinounternehmen.

Aus den neun Porträts erfahren wir einiges über jüdische Menschen, ihre Einstellung zum Leben und ihre beruflichen Karrieren. Ihre Haltung zur jüdischen Gemeinde ist unterschiedlich, aber sie stimmen darin überein, dass es weniger die Religion sei, die heute die Bieler Juden zusammenhalte, als vielmehr gewisse Traditionen, die als Teile der jüdischen Kultur empfunden werden. Ob sich diese Kultur hierzulande halten kann? Insgesamt vermitteln die Gespräche das Bild einer offenen, liberalen Gemeinde, die Zerfallserscheinungen zeigt, weil nicht nur der religiöse Kitt bröcklig geworden ist, sondern auch die gemeinsamen Alltagsregeln oft nur noch eine marginale Rolle spielen. Ist es wirklich so, oder ist dies nur ein oberflächlicher Eindruck? Unter liegt die jüdische Gemeinde einem Trend, der die christlichen Gemeinden schon lange erfasst hat, oder gibt es spezifische Unterschiede? Auf solche Fragen liefert das Buch keine Antworten.

Zitierweise:
Kaestli, Tobias: Rezension zu: Flück, Melissa: Jüdisches Biel. Ein Porträtbuch. Zürich: Hier und Jetzt 2022 Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 3, 2022, S. 49-51.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 3, 2022, S. 49-51.

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